Jedes Alter zahlt ! Kritik der Demografiestrategie der Bundesregierung

Demographiepolitik ohne Konzept Jedes Alter zahlt

24.04.2012 ·  Viel zu wenig, viel zu spät: Die Demographiestrategie der Bundesregierung ist ein Trauerspiel. So vergeuden wir die Jahre, die bleiben, bevor die Gesellschaft zu alt und zu krank wird.

Von Reiner Klanglos

Sie kommt mit einem gewissen Zeitverzug, denn seit 40 Jahren ist absehbar, wohin die Reise geht. (…)

Das Werk mit dem Titel „Jedes Alter zählt“ ist jedoch keine Strategie, sondern im Wesentlichen eine kleinteilige Bestandsaufnahme von Programmen, Initiativen und Forschungsvorhaben, die ohnehin bereits existieren, von der Initiative „Mehr Männer in Kitas“ über die Forschungsagenda „Das Alter hat Zukunft“, den „Nationalen Aktionsplan Integration“ bis hin zum Aktionsprogramm „Regionale Daseinsvorsorge“. Eine wirkliche Strategie müsste erstens auf einer schonungslosen Analyse aufbauen, zweitens ein langfristiges, klares Ziel vorgeben und drittens erklären, mit welchen Eingriffen dieses Ziel unter Berücksichtigung der verfügbaren Mittel und Möglichkeiten zu erreichen wäre.

 

Die deutsche Bevölkerung in der Zukunft

Interessanterweise hat die Bundesregierung im vergangenen Oktober mit ihrem Demographiebericht eine Analyse vorgelegt, die einen Großteil der Herausforderungen klar beschreibt, seien es die Probleme der umlagefinanzierten Sozialsysteme oder die demographische Abwärtsspirale in vielen ländlichen Gebieten. Das Ziel der Bundesregierung jedoch ist hoffnungslos überdimensioniert: Mit der Demographiestrategie will sie Wirtschaftsdynamik und Innovationskraft stärken, Familien unterstützen, Hilfe für Hochbetagte und Pflegebedürftige bereitstellen, flächendeckend für eine Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen sorgen und dergleichen mehr. Hinzu kommt eine Reihe von Allgemeinplätzen, die in jedes Parteiprogramm passen: Chancen eröffnen, Potentiale entwickeln, Wachstum und Wohlstand sichern. Und alles unter der Garantie nachhaltiger, gesunder Finanzen.

Das kann so natürlich nicht funktionieren.

 

Denn heute sorgen vor allem die starken und gut qualifizierten Kohorten der Babyboomer für Wohlstand und einen Exportüberschuss ohnegleichen. Dennoch hat sich das Wirtschaftswachstum, gemittelt über die letzten zehn Jahre, auf weniger als 1 Prozent abgeschwächt. Im Jahrzehnt zuvor waren es noch 1,9 Prozent. Und davor 2,3 Prozent. Die dünnbesetzten Jahrgänge, die den Babyboomern folgen, werden nicht plötzlich das Ruder herumreißen und wieder für mehr Wachstum sorgen können. Zumal sie neben der Versorgung ihrer Vorgänger auch noch für die über die Jahre aufgetürmten Schuldenlasten aufkommen sollen.

Der Trend wird 2030 nicht enden

Die Unternehmen müssen sich bis 2030 darauf einstellen, mit 6,3 Millionen weniger Erwerbsfähigen im Alter von zwanzig bis 64 Jahren auszukommen, aber gleichzeitig so produktiv zu sein, dass die Gesellschaft einen Zuwachs von 5,5 Millionen über Vierundsechzigjähriger finanzieren kann. Und dieser Trend endet nicht 2030: Bis 2050 dürften im Vergleich zu heute sogar 12,7 Millionen mehr Personen ins heutige Rentenalter hineinwachsen, als junge Menschen ins Erwerbsleben nachrücken.

Es ist zwar geplant, das Rentenalter in homöopathischen Dosen zu erhöhen. Aber dies wird nicht einmal dem Ausmaß der Alterung gerecht, denn die Lebenserwartung steigt schneller, als das Rentenalter hochgesetzt werden soll. Gerade erst hat der Internationale Währungsfonds (IWF) die Lücken der privaten und gesetzlichen Rentenkassen bis 2050 in Deutschland auf mehr als zwei Billionen Euro taxiert. Bis 2050 dürfte hierzulande jeder Siebte älter als achtzig Jahre sein. Weil gerade die hohen Jahrgänge die am stärksten wachsende Altersgruppe stellen, ist mit einer Verdopplung der Demenzkranken bis 2050 zu rechnen, während die Zahl der potentiell Pflegenden innerhalb und außerhalb der Familie dramatisch zurückgeht. Das alles muss bezahlt werden.

Aus diesen Fakten zieht das Papier der Bundesregierung jedoch nicht den Schluss, dass es künftig weniger an die Rentner und hilfebedürftigen Alten zu verteilen gibt und/oder die Arbeitenden mehr Sozialbeiträge und Steuern zahlen müssen. Dies ehrlich zu sagen wäre jedoch die Grundlage für „einen Dialogprozess mit allen Gestaltungspartnern“, wie ihn die Strategie fordert.

Potential bei Frauen, Älteren und Geringqualifizierten

Aber wie will man einen Dialog führen, wenn noch andere, demographisch bedingte Belastungen glatt unter den Tisch fallen, etwa die Pensionsansprüche der Beamten und Soldaten. Die bis 2050 anfallenden Versorgungsverpflichtungen des Staates summieren sich auf mindestens 1,3 Billionen Euro. Mangels Rücklagen müssen sie größtenteils aus dem laufenden Haushalt finanziert werden. Es handelt sich also um implizite Schulden, die deutlich über jenen der offiziellen Staatsverschuldung liegen, aber in der Demographiestrategie gar nicht zur Sprache kommen. Folgerichtig können auch keine Eingriffe zur Sprache kommen, etwa notwendige Pensionskürzungen oder die weitere Heraufsetzung des Pensionsalters, die schon deshalb stärker ausfallen müsste als beim Rentenalter, weil Beamte im Schnitt zwei Jahre länger leben als gewöhnliche Erwerbstätige.

Angesichts der wachsenden Belastungen käme es darauf an, die Wirtschaft so wettbewerbsfähig wie möglich zu halten, damit der Staat über Steuern und Abgaben ausreichend hohe Einnahmen erzielen kann. Die Bundesregierung will für Wachstum und Wohlstand fast ausschließlich durch die Aktivierung noch nicht genutzter Potentiale sorgen, aus den üblichen am Arbeitsmarkt marginalisierten Bevölkerungsgruppen: Frauen, Ältere und Geringqualifizierte. Das tut sie – zu Recht und mit Erfolgen – seit geraumer Zeit. Trotzdem wird der Fachkräftemangel größer. Er ist in seinem Ausmaß zwar umstritten, aber binnen zehn Jahren wird er sich auf nahezu alle Branchen ausweiten. Dass bereits im Jahr 2011 in Deutschland 30000 Lehrstellen ohne Auszubildende geblieben sind, zeigt, was auf uns zukommt: Es fehlen nicht nur die Qualifizierten, sondern auch der Nachwuchs, der die Lücken schließen könnte.

 

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